- 21. Mai 2021
- Veröffentlicht durch: Christoph H. Vaagt
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Bild: Entwicklung des Umsatzes pro Berufsträgers der führenden nationalen Kanzleien (Hengeler, Gleiss Lutz, SZA), der führenden UK und US Kanzleien (Global Player) und der mittelständischen Kanzleien unter den Top 100 Kanzleien in Deutschland. Daten aus Juve, Analyse LFCC
Größere deutsche Kanzleien, und das waren im Jahre 1996 genau 237 mit mehr als 9 Außensozien, hatten bis in die neunziger Jahre wenig Wettbewerb. Mit Aufkommen des Wettbewerbs durch angelsächsische Kanzleien veränderte sich die Situation radikal. Das lag vor allem an der sehr konservativen Politik der Kammern und dem Selbstverständnis vieler Anwälte, die wenig von marktwirtschaftlichen Instrumenten hielten, witterten sie dahinter gleich die „Degradierung“ ihres Berufsstandes. Sie verbargen ihre wirtschaftlichen Interessen hinter dem Anspruch, der „Gesellschaft“ zu dienen, was aber nur zum Teil zutraf. Gewinn der Sozietät wurde als Ergebnis, nicht Ziel, betrachtet, und Partner verdienten, gemessen an den Erwartungen, meist „genug“. Als Vergleichsmaßstab galt Richter Gehalt R 3, auch bei der Kalkulation von „Preisen“ für Kanzleien, woran die BRAK ja heute noch festhält in ihrem an Umsatz orientierten Verkaufsmodell, dem als Kanzleiinhaber dieses Gehalt als angemessen zugrunde gelegt wird. Kanzleien meinten, nicht auf Produktivität schauen zu müssen, weil sie ihre Preise durchsetzen konnten, und ansonsten die Mischkalkulation der BRAGO, dem Vorläufer des RVG, als auskömmlich galt. Mitarbeiter gab es genug (Babyboomer), und damit wenig Gehaltsspielraum für Berufsanfänger. Fachliche Spezialisierungen kamen gerade auf, aber nur in geringem Masse. Anwälte übernahmen die Mandate, die ihnen zugetragen wurden, meist ohne großen Unterschied. Wenige Kanzleien waren schon klar auf Wirtschaftsunternehmen spezialisiert, und die, die es waren, gehören noch heute zur Marktspitze (wenn auch meist in anderem Kleid). Fachliche Exzellenz galt mehr als Produktivität, auch wenn es nur wenig Vergleichsmaßstäbe wie heute auch
Mit Aufkommen des Wettbewerbs durch angelsächsische Kanzleien veränderte sich die Situation radikal
Junge Leute fragten nach Perspektiven, zumal die wenigen UK und US Kanzleien, die seit Anfang 1990er Jahre nach Deutschland kamen, schon höhere Gehälter zahlten und spannendere Mandate hatten. Dieser Prozess hatte im englischen Markt ähnlich stattgefunden, als Clifford Chance nach der Fusion dieser beiden mittelgroßen Sozietäten 1988 die lange unter den Top Kanzleien der Londoner City geltende kartellartige Absprache zu bestimmten Gahaltshöhen aufkündigte und radikal gute Leute zu höhren Löhnen abwarb.
Dieses Rezept wurde überfallartig Anfang der 2000er Jahre mit dem Eindringen von UK und US Kanzleien auf den deutschen Markt angewandt; in kurzer Zeit sortierte sich der Markt radikal neu, angefangen mit den Partnern bis herunter zu den Berufsanfängern. Dieser Prozess war im wesentlich schon im Jahre 2005 beendet, und die deutschen Kanzleien, die sich mühselig in den neunziger Jahren zu größeren, überörtlichen Einheiten entwickelt hatten, staunten nicht schlecht, als sie diese Gehälter einfach nicht stemmen konnten, und die Apelle an „Kultur“ etc. auch nicht verfingen: schließlich arbeitet man überall viel: im Durchschnitt ist ein Anwalt in jeder Kanzlei mind. 10 Stunden, aber die Produktivität weicht stark voneinander ab: von 4 bis 7 Stunden abrechenbare Stunden.
UK/US Kanzleien lockten mit höheren Gehältern und Partnergewinnen, und die jungen Top Performer stellten Fragen, die die älteren Jahrgänge unter Druck setzte. So sind viele der Fusionen in den Jahren 1998 bis 2003 immer Krisenmerger gewesen, bei denen sich deutsche Kanzleien gezwungen waren, zu fusionieren, mit wenige Ausnahmen.
Der Dammbruch war die Akquisition von Chrysler durch Daimler Benz 1997, welche erstmals nicht durch die Haus- und Hofkanzlei SZA, sondern durch Shearmann & Sterling durchgeführt wurde. SZA schloß sich daher folgerichtig Shearman an.
Zahlen bekamen Bedeutung, und dank dem Juve-Verlag wurden diese auch publik. Modernes Kanzleimanagement und Controlling zog in große Kanzleien ein, und die Optimierung der Zahlen war klares Ziel. Rekrutierungsagenturen, die etwa auch Finanzierer des Juve-Verlages waren, profitierten davon, und verdienten sich eine goldene Nase, insb. bei Partnerwechseln.
Die meisten deutschen Großkanzleien waren nicht vorbereitet: sie konnten nur fusionieren oder zerfielen. Machten sie Fehler, in dem sie etwa zur Unzeit Gewinnverteilungsdebatten anfingen, verloren dann schnell ihre Top-Leute. So kamen unverhofft ein paar US-Kanzleien zu einem Team in Deutschland, mit denen sie vorher nur auf Empfehlungsbasis zusammengearbeitet hatten.
Von den 237 Kanzleien, die im Jahre 1996 mehr als 9 Außensozien hatten, waren Ende 2010 nur noch 10 % am Markt unter demselben Markennamen aktiv. Einige wenige überlebten, wie Hengeler Mueller, Gleiss Lutz, etc.. Die anderen überlebten in sehr engen Nischen, abseits der Großstädte oder geschützt durch eine nach innen gerichteter Kultur. Der Rest war implodiert, aufgegangen, fusioniert oder sonst wie untergegangen. Große Namen wie Wessing, Schürmann, Schön Nolte verschwanden vom Markt. Die Fusionsstammbäume der internationalen Kanzleien in Deutschland sind sehr gut in Juve Handbüchern dokumentiert (bis 2016/2017)
Es gab nur wenige Ausnahmen wie etwa Haarmann Hemmelrath, die kurz vor ihrem Ende 2004 32 Standorte weltweit hatte; aber dann an fehlendem Management zerbracht. Oder Rödl & Partner, die aufgrund der stark zentralisierten Struktur und der Mehrheit der Anteile in Familienhand die Änderungen mitgehen konnte.
Mit Publikationen wie legal 500, Chambers und Juve wurde der Kanzleimarkt in Deutschland transparenter, vor allem für Rekrutierungsagenturen, die fast ausschließlich von UK/US Kanzleien in Anspruch genommen wurden. Diese verstanden es, ihre Wettbewerbsvorteile auszuspielen. Sie redeten offen über Gehälter und Aufstiegschancen. Dank der Globalisierung und einer expansiven Internationalisierungsstrategie verfügten sie über große Mandate internationaler Investoren, die nach Deutschland drängten, oder begleiteten deutsche Konzerne ins Ausland.
Der Markt hat sich dadurch von ca. 1998 bis 2005 radikal verändert: Deutsche Kanzleien liefen Gefahr, nur noch als Ausbildungsstätte für die Top Kanzleien wahrgenommen zu werden. Deutsche Kanzleien mussten sich reorganisieren, was dann meist erst ab 2010 gelang. Deutsche Kanzleien mussten profitabler werden, um im Gehaltskrieg nicht gänzlich angehängt zu werden.
Aber die wichtigsten und honorarträchtigsten Mandate waren da schon abgewandert: sie fokussierten sich daher primär auf deutsche Rechtsfragen, und hatten international wenig zu melden.
2 Die vier Markt-Segmente
Der Kanzleimarkt hatte sich in der Zeit von 1995 bis 2005 in vier Markt-Segmente gespalten
1. Das Konzernsegment jener wenigen Großkanzleien, die diese Mandanten national und international betreuen können (von den größten 100-200 Kanzleien ca. 50 % UK und US-Kanzleien, ca. 50 % deutsche Kanzleien)
2. Das Mittelstandssegment der Kanzleien mit meist 10-25 Partnern, die primär den deutschen Mittelstand betreuen, auch über Grenzen hinweg
3. Das KMU Segment der kleineren Kanzleien, die vor allem kleine und mittelgroße Betriebe, Selbständige und Freiberufler betreuen, sowie anspruchsvolle Privatmandanten
4. Einzelanwälte und selbständig tätige Rae, die primär für Privatmandanten tätig sind oder als selbständige Anwälte in größeren Kanzleien tätig sind.
Doch auch unter diesen geänderten Marktbedingungen halten noch viele Kanzleien vor allem im Mittelstandssegment in Deutschland an der Idee fest, es ginge “anders”:
· Die Freiheit der Advokatur, ursprünglich ein Kampfbegriff gegen staatliche Bevormundung, wird jetzt manches Mal als Losung für kanzleiinterne Anarchie genutzt, um sich persönliche Freiheiten zu erhalten und keine Verantwortung für andere oder gar das Ganze zu übernehmen.
· Führung von Mitarbeitern wird vernachlässigt – daher bewerben sich keine mehr; und aufgrund der Demographie wird sich das auch nicht ändern. Gute Leute wandern einfach ab oder kommen gar nicht erst.
· Relevante Kennzahlen fehlen fast immer: die am meisten verbreiteten Softwarehersteller liefern sie nicht, da keine Nachfrage bestehe. Daher dominieren jetzt zwei Anbieter den ganzen Markt für Wirtschaftskanzleien, während der Rest im wirtschaftlichen Tiefschlaf verbleibt.
Dem zugrunde liegt ein unreflektiertes Verständnis vom Markt: um unabhängig sein zu können, ist relevant, dass man nicht wirtschaftlich abhängig wird; dagegen ist die “Fremdbestimmung“ durch die gleichgestellten Partner eine Chimäre, die an die Wand gemalt wird, ohne Realitätsbezogenheit.
Durch fehlende Veränderungen intern halten die Anwälte auch ein einem Anwalts-Sekretariats-verhältnis fest, obwohl immer weniger Rechtsfachanwaltsangestellte ausgebildet werden; und für diese die Tätigkeit Eintönig und wenig attraktiv erscheint, so dass sie gerne in anderen Berufen abwandern.
Doch fehlende Auseinandersetzung mit dem Markt und der eigenen Wettbewerbsfähigkeit führt zu einer nachlassenden Wettbewerbsfähigkeit. Erste Partnerschaften haben bereits beschlossen, dass es keine Nachfolger geben wird, und sie daher “Auslaufmodell” sind, insbesondere in kleineren Städten und auf dem Land. Damit besteht, wie in England die Gefahr, dass die qualifizierte Rechtsberatung auf dem flachen Land nicht mehr gesichert werden kann. Hier hat Legal Tech daher die großen Chancen, und mit ihnen die Angebote der Rechtsschutzversicherer auf Streitbeilegung durch die eigenen Mitarbeiter in Telefonzentralen.
3 Welche Wege gibt es aus diesem Dilemma?
Die Verbesserung der Wirtschaftlichkeit muss als Ziel definiert werden, um attraktivere Gehälter und Gewinne zahlen zu können. Die Akzeptanz und Verstehen des Geschäftsmodells eines Dienstleistungsbetriebes setzt voraus, dass man versteht, dass letztlich Zeit gegen Geld getauscht wird. Wissen gibt es in unterschiedlicher Qualität dazu.
Die Bewirtschaftung der Ressource Zeit ist zentral: die Kanzlei muss als Dienstleistungsbetrieb sich durchlaufende Verbesserungen weiterentwickeln. Die Ausrichtung am Wettbewerb setzt die Akzeptanz moderner Managementmethoden voraus, auch wenn das kollegiale Miteinander anders als in Unternehmen gelebt wird, weil es einfach mehr Miteigentümer gibt. Standardisierung und Erhöhung der Leistungsfähigkeit der Kanzlei, auch durch Reorganisation des Sekretariats, müssen zur Regel werden.
Die Akzeptanz des Geschäftsmodells eine mittelständische Kanzlei setzt auch voraus, dass die Verantwortung für Auslastung der Mitarbeiter bei den Partnern liegt, nicht den unerfahrenen Berufsanfängern. Die Partner müssen Führung bieten und Entscheidungen treffen, damit die Kanzlei muss wettbewerbsfähige Gehälter zahlen kann. Die Einführung von Kennzahlen mit Hilfe der richtigen Kanzleisoftware wird zur Überlebensstrategie.
Die Akzeptanz der Kanzlei als informationsverarbeitender Dienstleistungsbetrieb setzt die Einführung leistungsfähiger Software sowie der digitalen Akte voraus, und das Vorhalten und Standardisierung von Wissen ist zentral für Geschwindigkeit und Marktnähe. Das bedeutet auch bessere Unterstützung der Workflows nicht nur in der Forensik, sondern auch und vor allem im Beratungsbereich, angefangen mit Musterverwaltung bis hin zur Einbringung moderner Kommunikationsmittel wir SMS, Slack etc. also modernen Tools der Kommunikation, die aber dennoch teilweise in die Handakte dokumentiert werden müssen.
Die Spezialisierung ist Voraussetzung für Effizienz, nicht mehr Ziel als solches. Dabei reicht die Spezialisierung auf Rechtfragen nicht mehr aus, sondern die Industriespezialisierung ist zunehmend notwendig, um schnell an die Mandantenwelt anschlußfähig zu sein.
Die Freiheit im Mandat wird davon nicht berührt – aber natürlich gibt es in jeder Organisation immer auch Begrenzungen des eigenen Verhaltens und die Notwendigkeit, Verantwortung zu übernehmen. Auch junge Anwälte, die angestellt werden, kann man nicht ohne Führung lassen; die Erfordernisse der Produktivität müssen genauso respektiert werden wie zeitlich nahes, wertschätzendes Feedback bei Fehlern. Auch ethische Anforderungen an das Verhalten der Anwälte sind zu reflektieren und zu berücksichtigen: also etwa Mandatsniederlegungen, Beantragung eines VA bei Abwesenheit des gegnerischen Anwalts im Termin oder eben nicht, etc. Hier gab es mal Standesrichtlinien, die den Rahmen bildeten; diese wurden zwar mangels Rechtsgrundlage vom BVerG als unzulässig abgeschafft, aber damit gibt es dennoch Regeln und Anforderungen an das Verhalten der Kollegen, welche sich nicht nur aus Gesetz ableiten lassen, auch wenn die Kammern sich scheuen, sich damit zu befassen.
Schlussendlich geht es darum, auch eine mittelgroße Sozietät als Wirtschaftsunternehmen zu verstehen, deren Ziel es ist, für die Mandanten einen qualitativ angemessenen und korrekten Rechtsrat gegen Geld zur Verfügung zu stellen, und damit die Existenzgrundlage aller Mitarbeitenden inklusive der Gesellschafter sicherzustellen, so dass das Unternehmen auch attraktiv für neue Mitarbeiter bleibt. Und das setzt in einer sich laufend verändernden Wettbewerbslandschaft einfach voraus, dass man auf die Profitabilität der Kanzlei schaut.